Dominik Criado

January 26, 2023

Oh là là. Die Franzosen wollen nicht länger arbeiten.

Da ich gerade in meinen freien Minuten Französisch lerne, tauche ich auch immer mehr in die französische Kultur ein. Eigentlich fand ich sie schon immer faszinierend. Nimmt man die deutsche und die französische Kultur, kombiniert sie, hat man ein vielseitiges Paket, das sich gut ergänzt. Es ist klischeehaft, aber jedes Klischee hat auch etwas Wahrheit: Wir Deutschen agieren mehr mit dem Kopf, die Franzosen mit dem Herzen. Wir stellen Ordnung über Gerechtigkeit, die Franzosen Kampf über Folgschaft. Wir definieren uns über materielle Errungenschaften, die Franzosen über Lebensqualität.

In das Bild passt der enorme Widerstand gegen die Rentenreform von Präsident Macron. Das Eintrittsalter soll von 62 auf 64 angehoben werden. Wir kennen die Diskussion in Deutschland natürlich auch. Die Gesellschaft wird immer älter, die Pensionskassen ächzen unter der Last. Die Statistiken sprechen für sich. Der Deutsche murrt, aber sieht es ein. Ein Großteil der Franzosen (über 80 Prozent) sehen das anders, weil sie eine ganz andere Sichtweise haben, wie der Artikel "Why the French Want to Stop Working" im Atlantic bestens beschreibt:

In the pension debate, all of this translates into a belief that the government wants workers to absorb the pain, while sparing the wealthy. “The money is there; it just always goes to the same people,” said a 40-year-old nurse I spoke with at the demonstration. He argued that France could easily pay for the pensions “by balancing out the money between the more and less rich.”

Reiche und Superreiche haben keinen guten Ruf in Frankreich. Sie nutzen Steuerschlupflöcher und verhindern faire Arbeitsbedingungen. Frankreich hat starke linke und rechte Flanken im politischen System. Zudem ist die Solidarität zwischen Arbeitern und sonstigen Niedrigverdienern sehr hoch. Also gäbe es ein starkes kollektives Bewusstsein, dass Arbeiterrechte, das Sozialsystem und Demokratie nur mit Kampf gewonnen und eben auch verteidigt werden. Und zum Kämpfen muss man Zusammenhalten.

In Deutschland sind uns die Debatten und Argumente natürlich auch bekannt. Letztlich ist bei uns das Spektrum an Meinungen und Positionen aber breiter und weniger einheitlich. Deutlicher wird der Kontrast, wenn man die USA in den Vergleich miteinbezieht, was in dem Artikel wie folgt beschrieben wird:

The protesters seemed disgruntled with their lot, but when I told a group of them that I’m American, they gasped and said Oh, là là.

“I would never go live there, absolutely not,” said another nurse, a 47-year-old mother of three. “We Europeans, what we understand is that everything there is based on money, cash. There’s no solidarity. And it’s a shame.” In France, she said, “the guy that gets up in the morning and cleans the streets, we’re grateful to him, too.”

Weiter schreibt der (amerikanische) Autor über den unterschiedlichen Ruf von Superreichen in den USA versus Frankreich:

Billionaires like Musk get some flak in the U.S., of course. But when my kids were learning to read, American friends sent them admiring children’s biographies of Steve Jobs and Bill Gates. In 2016, the U.S. made a would-be billionaire its president—we tend to see entrepreneurs as aspirational figures who have earned their loot.

Ist das nicht großartig? Ich meine, diese Vielfalt. Jede Gesellschaft hat andere Mechanismen, um für Hoffnung und Gemeinschaft zu sorgen. Vielleicht, funktioniert das bei den Franzosen durch ein "wir unten, die oben"-Gefühl, bei den Deutschen durch den Glauben an die Regelkraft des Staates und bei den Amerikanern kann eben jeder vom Tellerwäscher sich hocharbeiten. Faszinierend.

Oh, là là. 
Herrje.
OMG. 

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