Sebastian Herold

March 23, 2024

Guten Morgen, mentale Belastungen

Das Internet will schon wieder etwas von mir. “Download our “How to have a growth mindset” beginners guide”, ja kein Plan, ich schaff’s zurzeit noch nicht einmal, dass mein Gehirn nicht bei den einfachsten Sachen davonfliegt wie z. B. Tee kochen oder schauen.

Woche drei von fünf, in denen ich mit meinen beiden Kindern und meinem Vollzeit-Job und dem Haushalt hier alleine bin, beginnt mit einem Szenario, das ab einem gewissen Punkt des Kinderhabens irgendwann so selbstverständlich wird, wie Wasser trinken.

Die Kinder sind krank.

Die ersten beiden Wochen gingen problemlos vorüber, aber pünktlich zum neuen Wochenbeginn fieberte und hustete sich zunächst Kind 2 die Seele aus dem kleinen Körper und jetzt, mit zweitägiger Verzögerung, ist Kind 1 an der Reihe. Beide sind nun krank zu Hause, kein Kindergarten, keine Schule und das soziale Netz, mit dem ich das, ohne übertrieben ins Grübeln zu geraten, auffangen könnte, als dicht zu bezeichnen, wäre eine ziemliche Übertreibung.

Heute ist der erste Tag, an dem ich Unterstützung benötige und zumindest Oma 1 von 2 kann ich kurzfristig für einen Tag akquirieren. So kann ich wenigstens noch einmal ins Büro fahren, die wichtigsten Dinge erledigen und am späten Nachmittag sogar eine kleine Runde laufen gehen. 
Danke. 

Anpassen. Verbessern. Wiederholen.


Fulltime-Job plus Kinder plus Haushalt kann nur funktionieren, solange alle Teile perfekt ineinander greifen. Niemand darf krank werden (Lol), der Verkehr auf der Straße darf einen nicht zu lange aufhalten. Das eigene Schlafpensum muss wenigstens minimal erfüllt sein. Die gewaschene Wäsche darf nicht vergessen werden, der Einkauf und der Müll und die Krankmeldungen und die Arzttermine sowieso nicht. 

Hab’ ich heute eigentlich schon etwas gegessen?

Das ganze Konstrukt ist filigran. Wenn es funktionieren soll, müssen alle Parameter in dieser Tageskalkulation des Irrsinns eine gewisse Toleranz einhalten. Wird sie überschritten, erhöht sich an zu vielen Stellen gleichzeitig die Belastung, dann zerbröselt die Tagesplanung wie Herbstlaub im Frühling.

Man muss flexibel die eigenen Vorstellungen darüber, wie der Tag ablaufen soll, entweder komplett über Bord werfen oder sie rechtzeitig und klug anpassen. Durchatmen, neu ausrichten, weitermachen. Und für das nächste Mal und die nächsten Tage die Toleranzgrenzen entsprechend anpassen. Versuchen, nicht zu viel auf einmal zu schultern und sich immer wieder, wenn etwas nicht so läuft, wie man es sich vorstellt, die Frage stellen: Was ist das Schlimmste, das jetzt passieren kann?

Und bei allem ganz wichtig: atmen nicht vergessen.
Und auch nicht die eigenen Bedürfnisse.

Wollte ich nicht etwas essen?

“Wenn es schräg wird, werden die Schrägen zu Profis.”
– Hunter S. Thompson

Auch wenn ich in den vergangenen Tagen sehr oft sehr tief durchatmen musste, geht es letzten Endes doch immer irgendwie. Bis zu einem gewissen Punkt empfinde ich diesen Zustand sogar als hilfreich und produktiv, denn man muss die Dinge, die wirklich wichtig sind, zwangsläufig laserscharf fokussieren, sonst fliegt einem die ganze Kiste auseinander.

Läuft dieser Modus jedoch in Dauerschleife und man überschreitet diesen gewissen Punkt, ohne auf den Allgemeinzustand im Oberstübchen zu achten und in einem angemessenen Verhältnis nicht übertrieben, aber bestimmt und rechtzeitig auf die Bremse zu treten, dann wird die Angelegenheit sehr schnell sehr hässlich. 

Denn was dann noch übrigbleibt, ist der Bodensatz der Person, die man einst mal war; ist nährstoffarme Kreativbrühe, aus der sich außer Matsch und braunen Klumpen nichts Förderliches mehr herausfischen lässt. Und man am Ende des Tages bloß noch mutlos mit den drei verbliebenen Zähnen auf der Brotkruste des Daseins herumknabbert. 

(Entschuldigt, das waren jetzt viele Bilder für diesen kleinen Absatz, aber das musste einfach raus.)

Alles in allem besteht die latente Gefahr, dass diese Situation in einen verdammt unguten Zustand der Regression umkippen kann.

Heute merke ich zum Beispiel diese Form von Ausgezehrtheit, die nichts körperliches hat. Mein Schlaf war okay und sogar mitteldurchschnittlich lang, was auch immer das bedeutet. Die Oberschenkel brennen nicht wie sonst von den langen Läufen der Tage zuvor, dafür sind die Beine schwer von den vielen Stunden, in denen ich mich auf ihnen befinde. 

Es sind eher die unsichtbaren kognitiven Belastungen, die allmählich mein internes System verstopfen. Dinge, die bereits erledigt sind oder banale Alltagsaufgaben, eigentlich nicht der Rede wert, die aber als Prozess in meinem Hinterkopf ständig weiterlaufen. Hab’ ich das Rezept für den Arzt für Kind 2? Hat Kind 1 noch Hausaufgaben? Wäsche abhängen, Brotzeitdosen sauber machen, Papiermüll rausbringen, Friseurtermin verschieben, so die Schiene. Um diese Prozesse im Speicher zu behalten, benötige ich zusätzliche mentale Energie. Das ist ein kräftezehrendes Organisationsbohei.

Und da reden wir noch gar nicht von den Belastungen eines Vollzeit-Jobs, auf denen all diese kleinen Nettigkeiten als Sahnehäubchen obendrauf kommen.

Ich weiß dieses Privileg sehr zu schätzen, dass ich momentan in einer Festanstellung arbeite, in der a) derzeit nicht übertrieben viele Projekte laufen und b) sehr empathische Menschen arbeiten. Ich fahre jeden Tag auf Sicht und arbeite, was ich kann. Meistens klappe ich abends oder generell an Zeiten, an denen ich eigentlich bis auf den Grund meiner Seele erschöpft bin und den dringenden Wunsch verspüre, jetzt einfach mal nix denken zu müssen, den Rechner nochmals auf und arbeite weiter.

Und so schäle ich mir mit Bedacht an jedem Tag aufs neue jede Minute aus den vorhandenen 1440 heraus, mit einer Art Vorfreude, wie man sie nur haben kann, wenn man sich auf eine Scheibe Apfel freut, nachdem man drei Tage lang nichts gegessen hat.

Ich kann mit meinen Kindern gut alleine sein, auch gerne für eine längere Zeit und wenn es überhaupt etwas an dieser Situation gibt, das ich wirklich bedauerlich finde, dann ist es die Selbstverständlichkeit, mit der diese Arbeit, die leider immer noch hauptsächlich von Frauen gestemmt wird, erwartet und – bezogen auf die Frauen – mit einer gefühllosen Beiläufigkeit, die mich anwidert, von ihnen eingefordert wird.

Mein tiefster Respekt gilt allen alleinerziehenden Menschen.
Fühlt euch verstanden und gedrückt. 🫂
Alles geht vorbei.
Und alles wird gut (und dann schlecht und dann wieder gut und wieder schlecht usw.)

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